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Natascha Kampusch: „Ich konnte schon immer viel aushalten“
Natascha Kampusch wurde als Zehnjährige entführt und über acht Jahre in einem Keller gefangen gehalten. Ihre Flucht löste im Jahr 2006 einen viel kritisierten Medienrummel aus, der die Grenzen zwischen Täter und Opfer zunehmend verwischte. Jetzt hat die heute 34-Jährige ein Buch über Krisenbewältigung geschrieben. Mit uns sprach sie über ihre innere Stärke und warum sie kein Opfer sein will.
Heike Manssen
29.11.2022, 11:59 Uhr
Wien. Sie ist wohl eines der bekanntesten Entführungsopfer der Welt - doch trotz zutiefst traumatischer Erfahrungen weigert sich Natascha Kampusch bis heute in die Opferrolle zu schlüpfen. In ihrem aktuellen Buch „Stärke zeigen – Bewältigungsstrategien für ein kraftvolles Leben“ schreibt sie über innere Stärke und Krisenbewältigung - oftmals mit persönlichen Details. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland spricht Kampusch über die Bedeutung der Fantasie, Cyber-Mobbing und die Zeit nach ihrer Selbstbefreiung.
Frau Kampusch, Sie bezeichnen sich als starke Person - hatten Sie dennoch nie Angst in der Zeit Ihrer Gefangenschaft zu zerbrechen?
Ich hatte immer wieder Angst, allein schon, weil ich nicht wusste, ob ich die physische Gewalt überhaupt überlebe. Doch man hat ja nur zwei Möglichkeiten in einer Krise: Entweder man schafft es oder man schafft es nicht.
In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie, dass Sie am ersten Abend Ihrer Entführung schon aufgehört haben, sich zu wehren, vielmehr anpassten, um zu überleben - und das als Zehnjährige. Woher kommt diese Stärke?
Stärke, die ist auch genetisch veranlagt. Ich konnte schon immer viel aushalten, aber das liegt auch daran, dass ich es von Klein auf erproben konnte. Ich war ein Trennungskind mit einer starken, oftmals auch sehr harten Mutter und einem überforderten Vater.
Mitleid mit dem Täter
Trotz allem sind sie sehr versöhnlich mit beiden. Aber auch mit Ihrem Entführer. Sie schreiben, dass Sie sogar Mitleid mit ihm hatten. Das bestätigt all diejenigen, die Ihnen schon früh ein Stockholm-Syndrom attestiert haben …
Ich bin dieser Theorie gegenüber kritisch eingestellt. Ich glaube vielmehr, dass es doch ganz logisch ist, sich auf seine Umgebung – und sei sie noch so schlimm - einzustellen. Wer sich in Menschen hineinversetzt kann, lernt die eigene Situation besser einzuschätzen. Es geht dabei um das eigene Verständnis, nicht darum, dass ich Verständnis für den Täter habe.
Können Sie anderen Menschen überhaupt noch vertrauen?
Mein Buch leitet auch dazu an, dass die Leute mehr sich selbst und ihrem Bauchgefühl vertrauen sollen. Es gab bei mir auch viele Vertrauensverletzungen, die weh getan haben. Trotzdem bringe ich Menschen zunächst einmal Vertrauen entgegen, aber eben kein blindes.
An einigen Stellen im Buch werden Sie sehr persönlich. Das ist Ihnen sicher nicht leicht gefallen?
Ja, vor allem, wenn man weiß, wie sehr ich darum gerungen haben, meine Privatsphäre zu wahren. Ich mache sehr viel mit mir selbst aus, aber ich wollte trotzdem einiges teilen – und viele erhoffen sich von mir, dass ich Wege aufweise, Selbstheilung im Schmerz zu finden. Ich kann über meine eigenen Erfahrungen andere Leute ein wenig an die Hand nehmen.
Sehen Sie sich als Vorbild?
Ich war anfangs in vielen Punkten unfreiwillig Vorbild. Doch mittlerweile nehme ich diese Rolle für mich an.
Sie beschreiben nicht nur die Gefangenschaft als traumatisch sondern auch die ersten Jahre nach Ihrer Selbstbefreiung. Warum?
Man hat zum Beispiel relativ früh versucht, meine Eltern mit Dreck zu bewerfen, Sie wurden der Kindesmisshandlung, des Missbrauchs und sogar des Mordes bezichtigt. So erlitten auch meine Eltern ein Trauma, mit dem ich nach meiner Selbstbefreiung umgehen musste. Meine Eltern haben sich untereinander zerstritten und die Medien haben einen Keil zwischen sie getrieben. Es ist natürlich schwierig, wenn man dann endlich nach Hause kommt, und die eigenen Eltern können sich noch schwerer in die Augen schauen als schon zuvor. Ich habe so viel Zeit mit ihnen verloren – das ist mir alles genommen worden.
Sie schreiben, dass Sie in der öffentlichen Wahrnehmung „nicht gebrochen genug“ wirkten und vom Opfer zur Täterin gemacht wurden. Dafür geben sie auch den Medien die Schuld…
Ja, man hat mir das Gefühl der Freiheit, auf die ich so lange verzichten musste, nicht zugestanden. Und egal, was ich sagte oder tat – ich wurde dafür immer kritisiert, es wurden viele Lügen erzählt und geschrieben. Ich hatte das Gefühl, alle wollten, dass irgendjemand für all das verantwortlich sein musste. Mir wurde suggeriert, als sei ich selbst Schuld und hätte sogar die Entführung provoziert.
Fühlen Sie sich noch als Opfer?
Ich habe Probleme damit, wenn die Leute als Opfer jemanden meinen, der sich nur selbst leidtut. Ich habe es immer vermieden in die Opferrolle zu schlüpfen und in Talkshows zu weinen – nur so konnte meine Geschichte so neutral wie möglich bleiben. Ich wollte auch nie riskieren, dass mich andere Menschen kränken oder dass andere durch mein Schicksal retraumatisiert werden und den Glauben an die Welt verlieren. Ich will mit meinem Buch ja auch Mut machen, dass man sich auch in schlechten Situationen zu einem besseren Selbst entwickeln kann.
„Ich bin nicht der hilflose Mensch“
Vielleicht wollte die Öffentlichkeit, dass sie nach den acht Jahren Gefangenschaft emotionaler reagieren – haben Sie die Menschen vielleicht irritiert?
Ja, vieles, was damals passiert ist, kam aus einer gewissen Hilflosigkeit mir gegenüber heraus. Ich bin nicht der hilflose Mensch. Natürlich ist man in Situationen wehrlos, das bedeutet aber nicht, dass man keine Kompetenzen in sich trägt. Die Menschen wollten eben nicht, dass da jemand ist, der Stärke zeigt, wieder aufsteht, weitermacht. Das war ihnen fremd. Mir wurde auch von Journalisten geraten, Emotionen zu zeigen, damit mich die Menschen mehr lieben.
Der „Standard“ hat mal über Sie geschrieben, dass sie eines der ersten prominenten Opfer von Online-Mobs waren. In Ihrem Buch über Cybermobbing berichten sie ausführlich über den Hass, der ihnen digital entgegenschlägt. Ist das heute immer noch so?
Ja, ich werde immer noch angegangen.
Schon als Zehnjährige, allein in einem Keller und immer der Willkür und den Launen des Entführers ausgesetzt, haben sie sich in die Welt der Fantasie zurückgezogen. Machen Sie das heute noch?
Ja, ich liebe das bis heute. Die Fantasie war mir immer eine Quelle der Erholung und der Konzentration. Das ist für mich eine Art Meditation, die mir Ruhe bringt. Ich bin halt auch gern für mich.
Ist der Rückzug in die Fantasie eine Überlebensstrategie?
Auf jeden Fall. Es hilft wirklich. Man kann damit quasi alles simulieren.
Bereuen Sie es heute, nach Ihrer Flucht nicht in die Anonymität gegangen zu sein?
Ich habe es deswegen nie bereut, weil ich mich ja sonst hätte verleugnen müssen. Da ist man jahrelang eingesperrt, isoliert und niemand nimmt Notiz von einem. In der Anonymität wäre es enorm schwierig gewesen eine Beziehung zu Leuten aufzubauen, ohne irgendwelche Märchen erzählen müssen, was meine Biografie angeht. Wahrscheinlich hätte man mich auch durch Besuchen bei meiner Familie gefunden und mich bedrängt.
Wenn die Kellersituation im Jetzt auftaucht
Wie schwer ist es, wenn die traumatischen Erlebnisse aus Ihrer Gefangenschaft von damals plötzlich in Ihrem heutigen Alltag wieder auftauchen?
Ich habe die Situation vielleicht deshalb so gut im Griff, weil ich mein ganzes Erwachsenenalter in Freiheit zugebracht habe. Manchmal sind es die kleinen Momente - wenn der Körper sich plötzlich an etwas erinnert oder ein Geräusch Assoziationen weckt – dass die Kellersituation im Jetzt auftaucht.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Menschen begreifen, dass wir alle vernetzt miteinander sind. Und dass nicht jeder immer alles nur zu seinen Gunsten macht. Es ist natürlich wichtig, dass man sich um sich selbst kümmert, aber man sollte auch ein gewisses Maß an Empathie entwickeln. Jeder Mensch kann in diese Richtung etwas tun und seinen Beitrag leisten.
Natascha Kampusch wurde 1988 in Wien geboren. Als zehnjähriges Kind wurde sie auf dem Schulweg entführt und mehr als acht Jahre im Keller eines Hauses gefangen gehalten, bis sie 2006 fliehen konnte. Heute lebt und arbeitet Natascha Kampusch in Wien. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, eine Schmuckkollektion herausgebracht und in Zusammenarbeit mit der „Hilfsvereinigung Don Bosco“ ein Krankenhaus in Sri Lanka aufgebaut.
Ihr aktuelles Buch: „Stärke zeigen – Bewältigungsstrategien für ein kraftvolles Leben“ erscheint am 28. November im Dachbuch Verlag.

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